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Uneinheitlich zur wirtschaftlichen Einheit beim Betriebsübergang

EuGH, Urteil vom 27.02.2020 – C-298/18

Dass das europäische Recht sowie die Entscheidungen der europäischen Rechtsprechungsorgane mittlerweile auch national eine große Bedeutung haben, ist kein Geheimnis. Der Arbeitnehmerschutz stellt ein klassisches Beispiel hierfür dar, da auf diesem Gebiet auf europäischer Ebene stetig an kleinen Stellschrauben gedreht wird, um die Arbeitnehmerrechte in den EU-Mitgliedstaaten möglichst zu vereinheitlichen. Neben jenen kleinen Stellschrauben gibt es aber auch einige Ausnahmen, in denen das europäische Recht schon seit langer Zeit nicht nur Ergänzungen zum nationalen Recht liefert, sondern dieses maßgeblich prägt. Im Arbeitsrecht ist der Betriebsübergang (§ 613a BGB) ein beredtes Beispiel hierfür, zu dem vor kurzem eine neue Entscheidung des EuGH erging, welche durchaus Gesprächsstoff liefert.

Rechtlicher Hintergrund

Nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB tritt bei einem rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang der neue Inhaber in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Aus § 613a BGB geht jedoch nicht hervor, was unter einem Betriebsübergang zu verstehen ist. Daher galt im Rahmen des § 613a BGB lange der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff, welcher vor allem an sachliche und immaterielle Betriebsmittel anknüpft. Im Laufe der 1990er Jahre ergingen einige EuGH-Urteile mit einer abweichenden Begriffsauslegung  des Betriebsübergangs, nach der für die Bestimmung eines Betriebsübergangs statt des bisher bekannten Betriebsbegriffs das Merkmal der auf Dauer angelegten wirtschaftlichen/ organisatorischen Einheit entscheidend war.  Dieser Rechtsprechung schloss sich das BAG in einer Entscheidung von 1997 uneingeschränkt an.  Im Jahr 2001 wurde daraufhin die EU-Richtlinie 2001/23/EG „zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen erlassen. Seither prägt die Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der wirtschaftlich/organisatorischen Einheit das Verständnis des Betriebsübergangs nach § 613a BGB.

Art. 1 Abs. 1 lit. b der EU-Richtlinie definiert die wirtschaftliche Einheit als eine organisierte Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit. Diese sehr weite Definition wird durch eine Vielzahl von EuGH-Entscheidungen konkretisiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist für einen Betriebsübergang entscheidend, dass die wirtschaftliche Einheit ihre Identität wahrt. Für die Feststellung der Identitätswahrung ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die sich im Wesentlichen an Einzelkriterien orientiert, welche aus vorangegangenen Entscheidungen resultieren. Eines dieser Kriterien beruht auf dem EuGH-Urteil „Liikenne“ vom 25.01.2001. Hier ging es um einen Auftrag, der die Erbringung eines sieben regionale Linien umfassenden Busverkehrsdienstes für einen Zeitraum von drei Jahren betraf. Der neue Betreiber hatte die Dienstkleidung einiger Fahrer, die zu ihm gewechselt hatten, übernommen und bis zur Lieferung der bestellten Fahrzeuge vom früheren Betreiber lediglich zwei Busse für einige Monate gemietet. Der EuGH entschied, dass, „da die materiellen Betriebsmittel von erheblicher Bedeutung für die Ausübung der Tätigkeit sind, die Tatsache, dass diese für den ordnungsgemäßen Betrieb der betreffenden Einheit unerlässlichen Mittel nicht vom alten auf den neuen Auftragnehmer des Auftrags für öffentlichen Busverkehr übergehen, es ausschließt, dass diese Einheit ihre Identität bewahrt hat“. Aufgrund dieses Urteils war es anschließend in der Rechtsprechung bei einer vorzunehmenden Gesamtabwägung von maßgeblicher Bedeutung, ob durch den neuen Inhaber entsprechende Betriebsmittel übernommen wurden, soweit diese für die jeweilige Tätigkeit unerlässlich waren. Andernfalls wurde ein Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB in dieser Fallkonstellation mit betriebsmittelintensiven Betrieben abgelehnt.

Sachverhalt

In dem am 27.02.2020 ergangenen EuGH-Urteil fanden die Richter einen ähnlichen Sachverhalt vor. Es ging um ein Busverkehrsunternehmen, welches für einen Landkreis in Brandenburg Nahverkehrsdienste erbrachte. Als der Landkreis diese Dienste für die Zeit ab dem 01.08.2017 neu ausschrieb, gab das Busverkehrsunternehmen kein neues Angebot ab. Stattdessen stellte das Unternehmen den Geschäftsbetrieb ein und sprach seinen Arbeitnehmern jeweils Kündigungen aus. Die Kraftverkehrsgesellschaft, welche den Zuschlag für die ab dem 01.08.2017 zu erbringenden Nahverkehrsdienste erhielt, stellte einen überwiegenden Teil der Busfahrer und einen Teil der Führungskräfte des zuvor engagierten Busverkehrsunternehmens ein. Jedoch teilten sie gleichermaßen im April 2017 mit, dass sie deren Busse, Betriebsstätten und sonstige Betriebsanlagen weder kaufen noch mieten noch von ihr Werkstattdienstleistungen in Anspruch nehmen werde.

In diesem Zusammenhang machten Arbeitnehmer und das zuvor engagierte Busverkehrsunternehmen aus unterschiedlichen Gründen vor dem Arbeitsgericht Cottbus geltend, dass die ursprünglichen Arbeitsverhältnisse auf die nun beauftragte Kraftverkehrsgesellschaft nach § 613a BGB übergegangen seien. Hierzu trugen sie vor, dass die Übernahme der Busse durch den neuen Auftragnehmer in Anbetracht der geltenden technischen und umweltrelevanten Normen ausgeschlossen gewesen sei, da sie bereits älter als 13 Jahre seien. Darüber hinaus genügten sie nicht den Anforderungen an die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen. Vielmehr seien dagegen die personellen Kräfte, die Busfahrer, ein „knappes Gut“. Daher gehe man davon aus, dass die Busfahrer die wirtschaftliche Einheit prägten.

Die Beklagte stützte sich ihrerseits auf das bereits dargestellte EuGH-Urteil „Liikenne„, um geltend zu machen, dass kein Betriebsübergang vorliegen könne, da im vorliegenden Fall materielle Betriebsmittel, insbesondere die Busse, nicht übernommen worden seien.

Das Arbeitsgericht Cottbus legte dem EuGH daraufhin die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob es auch zu einem Betriebsübergang eines Betriebs, der nennenswerte Betriebsmittel unerlässlich benötige, kommen könne, wenn keine nennenswerten Betriebsmittel übertragen würden, sondern lediglich ein wesentlicher Teil der Belegschaft übernommen sowie die Tätigkeit fortgesetzt würden.

Entscheidung

Auf die Vorlage des ArbG Cottbus hin hielt der EuGH nicht an seiner bisherigen Rechtsprechung fest und entschied, dass „es der Qualifizierung der Übernahme der Tätigkeit als Unternehmensübergang nicht notwendigerweise entgegenstehen muss, wenn andere tatsächliche Faktoren, wie die Übernahme eines wesentlichen Teils der Belegschaft und die Fortsetzung der Tätigkeit ohne Unterbrechung, die Feststellung zulassen, dass die betreffende wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt„.

In seiner Begründung zeigte das Gericht zunächst auf, dass es bereits in der Entscheidung von 2001 darauf hingewiesen habe,  dass aus der selbigen nicht gefolgert werden kann, dass die Übernahme der Betriebsmittel abstrakt als der einzige Faktor anzusehen ist, der für den Übergang eines im öffentlichen Personenbusverkehr tätigen Unternehmens entscheidend ist. Hiervon ausgehend stellte das Gericht im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung hauptsächlich darauf ab, dass es „in wirtschaftlicher Hinsicht für den neuen Betreiber nicht vernünftig gewesen sei, einen vorhandenen Busbestand zu übernehmen, der sich aus Fahrzeugen zusammensetzte, die betrieblich nicht genutzt werden konnten, da sie die zugelassene Betriebsdauer erreicht hatten und die Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllten“. Demnach sei die Entscheidung des neuen Betreibers, die Betriebsmittel des früheren Betreibers nicht zu übernehmen, durch äußere Zwänge diktiert worden. Dies stelle den Unterschied zu der Entscheidung von 2001 dar. Schließlich wäre das vorher beauftragte Unternehmen „in Anbetracht der vom öffentlichen Auftraggeber vorgegebenen technischen und umweltrelevanten Normen selbst gezwungen gewesen, in naher Zukunft seine Betriebsmittel zu ersetzen, wenn es für diesen Auftrag ein Angebot unterbreitet und den Zuschlag erhalten hätte„.

Einschätzung des Urteils

Das Urteil klingt mit Blick auf den Schutz von Arbeitnehmerrechten zunächst einmal plausibel und begrüßenswert. Jedoch entfernt sich die Rechtsprechung des EuGH durch diese Entscheidung erneut von einer einheitlichen Bestimmung des Begriffs der wirtschaftlichen Einheit beim Betriebsübergang, indem es deren Voraussetzungen weiter aufweicht. Zwar bestätigt der EuGH für diese Beurteilung das Erfordernis einer Gesamtabwägung anhand der dargestellten Grundsätze, auf die Geltung der bisherigen Rechtsprechung kann sich der Rechtsanwender gleichwohl nicht mehr in Gänze verlassen. Darüber hinaus steht diese Entscheidung des EuGH im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des BAG, welches beispielweise einen Betriebsübergang bei einem Rettungsdienst ablehnte, da die Rettungsfahrzeuge nicht übernommen wurden (vgl. BAG, Urteil vom 25.8.2016 – 8 AZR 53/15). Inwieweit zudem die Beurteilung der Tatsachenfrage, ob Betriebsmittel übernommen werden oder nicht, wirklich von den dahinterliegenden Gründen und Motiven abhängen kann, wie es der EuGH nun annimmt, ist fraglich. Daher bleibt abzuwarten, ob sich diese neue Rechtsprechung durchsetzen wird. Für alle Beteiligten bedeutet das Urteil, dass noch stärker als bisher auf die konkreten Umstände des Einzelfalls geachtet werden muss. Für den Erwerber steigt das Risiko, dass er ungewollt einen Betriebsübergang herbeiführt. Für die betroffenen Arbeitnehmer ergeben sich neue Ansatzpunkte, um für die Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses bei dem Erwerber zu streiten. Es gilt also das alte Sprichwort: Des einen Leid ist des anderen Freud.

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